Reflexionen aus dem beständigen Leben
Niklaus Stoecklin | Liselotte Moser | Louisa Gagliardi
4.10.2025 – 8.2.2026 | Reinhart am Stadtgarten
Medienorientierung zur Ausstellung am Donnerstag, 2. Oktober 2025, 11 Uhr oder individuelle Führung auf Anfrage
Kunst Museum Winterthur | Reinhart am Stadtgarten
Stadthausstrasse 6, 8400 Winterthur
Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Neuen Sachlichkeit feiert das Kunst Museum Winterthur die figurative Malerei. In der Ausstellung mit dem Titel Reflexionen aus dem beständigen Leben treffen drei Schweizer Künstlerpersönlichkeiten aufeinander, die sich durch ihren klaren Blick und ihre neue und – scheinbar – sachliche Darstellung auszeichnen: Niklaus Stoecklin (1896–1982), Liselotte Moser (1906–1983) und Louisa Gagliardi (*1989).
Während der Basler Niklaus Stoecklin zu den Wegbereitern und Protagonisten der Neuen Sachlichkeit zählt, ist die zehn Jahre später geborene Luzernerin Liselotte Moser eine weitgehend unbekannte Künstlerin, die es zu entdecken gilt. Das Schaffen dieser beiden historischen Figuren wird durch den zeitgenössischen Beitrag der jungen Walliserin Louisa Gagliardi reflektiert und in die Gegenwart überführt.
Allen drei gemein ist ihr scharfer Blick auf die Welt, ihre sorgfältige und an malerische Traditionen anknüpfende Arbeitsweise, die sie zu einer jeweils ganz eigenständigen figurativen Kunstsprache führte – eine Sprache, die sich auf einen ersten Blick schnell erschliesst, bei genauerer Betrachtung jedoch Tiefgründiges und Verborgenes offenbart und zum Nachdenken einlädt.
Der Titel der Ausstellung referiert auf Theodor W. Adornos wichtige Schrift Minima Moralia, die ihrerseits den Untertitel Reflexionen aus dem beschädigten Leben trägt. Adorno schrieb dieses Hauptwerk im amerikanischen Exil. Er setzt sich darin mit den Bedingungen des Menschseins im 20. Jahrhundert auseinander, ganz ähnlich, wie es auch unsere drei Künstler:innen in der Ausstellung tun. Während Adorno aber vor dem Hintergrund der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs das Leben als «beschädigt» ansah, will die Ausstellung das Nachdenken der Malerei im Bogen des 20. Jahrhunderts als eine «beständige» Reflexion über Realitäten und Realismen verstehen – nicht ohne deren Veränderungen nachzuspüren.
Als 1925 in Mannheim die Ausstellung Neue Sachlichkeit, kuratiert vom Kunsthistoriker und Museumsdirektor Gustav Hartlaub, eröffnet wurde, war Niklaus Stoecklin der einzige nicht-deutsche Künstler, dessen Werke dort gezeigt wurden. Er hatte mit seiner neuen Malerei für Aufsehen gesorgt, weil er die Formen und Farbexperimente eines Expressionismus hinter sich liess und aus dem Kubismus schöpfend zu einer neuen Deutlichkeit und Klarheit des Ausdrucks fand. Mit seinen frühen Hauptwerken der Casa rossa (1918) und der Vorstellung (1920–1921) ebnete er den Weg für eine Kunstrichtung, die sich an den alten Meistern der Gotik orientierte und daraus eine neue Bildsprache erschloss, die nach den Verwerfungen des Ersten Weltkriegs wieder mehr Orientierung und Halt bot und zur Kunst der 1920er-Jahre wurde. Gerade diesen frühen Hauptwerken wohnt etwas Rätselhaftes, ja Surreales inne, ein leiser Klang des Verborgenen, der hinter der Fassade, der scheinbar so deutlich lesbaren Darstellung liegt. Bei Betrachtung dieser Malerei wundert es nicht, dass der künstlerischen Strömung auch der Name «Magischer Realismus» gegeben wurde.
Liselotte Moser ist mit dieser Kunst aufgewachsen. 1906 in Luzern geboren, übersiedelte sie mit 20 Jahren in die USA, wo ihre Mutter Adèle Coulin Weibel als Kuratorin der Textilabteilung des Detroit Institute of Arts tätig war. Wohl unter dem jugendlichen Einfluss der Neuen Sachlichkeit in Europa und später unter dem Eindruck des Amerikanischen Realismus entwickelte Moser ihren eigenen sachlichen Zugang zur Welt. Weil sie an Kinderlähmung erkrankt und ihre Mobilität deshalb sehr eingeschränkt war, entwickelte sie eine scharfe Beobachtung ihrer Lebensrealität. So gehören Stillleben, Selbstporträt und Blicke aus ihrem Fenster zu den typischen Motiven ihres Schaffens. Auch bei ihr sind subtile Zwischentöne zu vernehmen und nicht selten mag man eine leichte Gesellschaftskritik erkennen, die auch vor sich selbst, dem eigenen Abbild nicht Halt macht und damit dem Werk eine geradezu existentielle Tiefe verleiht.
Bei Louisa Gagliardi geht es stets um gesellschaftliche Fragen, um Themen des alltäglichen Lebens und der Reflexionen darüber. Sie verhandelt diese an zeitgenössischen Fragen mit zeitgenössischen Medien. So entstehen ihre Bilder nicht mit dem Pinsel auf der Leinwand, sondern mit dem Cursor am Bildschirm: Sie scannt ihre Skizzen, zeichnet sie digital nach, erstellt mit Photoshop ein Bild, druckt es auf PVC und veredelt es mit Gel, Glitter oder Lack. Damit lotet Gagliardi Grenzen und Möglichkeiten der Malerei aus und steht trotz der zeitgenössischen Arbeitsweise ganz in der Tradition einer figurativen Malerei, die Félix Vallotton und die Neue Sachlichkeit vorbereitet haben. Gleichzeitig spielt sie auf generelle Fragen an, die mit Bildproduktion, Digitalisierung, Wahrheit und Fake zu tun haben, wie sie im 21. Jahrhundert virulent sind. Mit ihren nüchtern-distanzierten, zugleich spektakulären Bildern erweitert Gagliardi den historischen Schwerpunkt der Schau und bringt sie ins Hier und Jetzt.
Zur Ausstellung erscheint eine reich bebilderte Publikation bei Scheidegger & Spiess.



